VOM GLANZ UND ZAUBER UNGESCHLIFFENER DIAMANTEN

EIN STREIFZUG MIT ALFRED SCHLIENGER DURCH VIER BEWEGTE JAHRZEHNTE DES JUNGEN THEATERS BASEL

 

Vorspiel

 

Was wollen wir, ob jung, ob alt, als Zuschauerin und Zuschauer im Theater? Zuerst einmal: überrascht werden – verführt, berührt, verzaubert. Im besten Fall auch irritiert, bereichert, verändert. Wir sollen, so darf man sich erhoffen, nicht gleich herauskommen, wie wir hineingegangen sind. Und alles leibhaftig. Hier und jetzt. Live und gemeinschaftlich. Real statt virtuell. Analog statt digital. Das kann so nur dieses seltsam altmodische Medium Theater.

 

Was aber soll etwas so Altmodisches wie Theater ausgerechnet jungen Menschen zu bieten haben? Wenn dieses Buch Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dazu ein paar Einblicke und Antworten nahebringen kann, dann hat es ei- nen wichtigen Zweck bereits erfüllt. Sinnvoll ist aber auch, gleich zu Beginn zu klären, was dieses Buch nicht sein will. Es erscheint zwar zu einem Jubiläum, aber es soll kein simples Jubelbuch werden. Leichter gesagt als getan. Denn ich will meine Begeisterung für dieses Haus und seine Arbeiten, die ich seit vierzig Jahren kenne und schätze, nicht verstecken – und ich will sie in den vielen Gesprächen für dieses Buch sicher auch niemandem verwehren. Das hat viele gute Gründe. p Sandro Lunin, der profunde Kenner der nationalen und internationalen Theaterszene, bringt es im Gespräch auf Seite 22 mit zwei Begriffen am knappsten auf den Punkt: Das junge theater basel sei in seinem Bereich einzigartig: «Pionier und Solitär». Das jtb ist das wohl am häufigsten ausverkaufte Theater der Schweiz, es tourt mit seinen Stücken im In- und Ausland, holt wichtigste Preise ab und zeichnet sich in seiner ganzen Geschichte durch eine aussergewöhnliche Kontinuität, Ernsthaftigkeit und Innovationskraft aus. Man könnte die Hymne locker verlängern. Aber keine Sorge, wir werden den kritischen Blick auf dieses theatrale Kleinod dort, wo er am Platz ist, nicht vernachlässigen.

 

Was Sie in diesem Buch erwartet

 

‹FOREVER YOUNG – JUNGES THEATER ZWISCHEN TRAUM UND

REVOLTE›

kann und will keine umfassende historische Aufarbeitung von vier Jahrzehnten junges theater basel sein. Das Buch bietet vielmehr Einblicke und Reflexionen zu zentralen Themen, Konzepten und Methoden, die junges Theater, auch über das kleine Haus auf dem Kleinbasler Kasernenareal hinaus, prägen und beschäftigen.

  • Warum spielt das Ringen um Individualität und Souveränität, um persönliche und sexuelle Identität, um Solidarität und Gerechtigkeit eine so wichtige Rolle für junge Menschen?
  • Lesen Sie die Beiträge der beiden Psychologinnen Brigitte Latzko und Ingrid Hesse im Gespräch auf Seite 106 und der ‹Aufschrei›-Begründerin Anne Wizorek auf Seite 109.
  • Weshalb setzt sich das junge theater basel auch mit Aspekten wie der unkontrolliert ausbrechenden Gewalt in unserer Gesellschaft auseinander?
  • Der britische Dramatiker Simon Stephens nimmt zu dieser Problematik auf Seite 26 Stellung.
  • Welche Beziehungen gibt es zwischen den theatralen und den neuen digitalen Bühnen der sozialen Medien und welche Rolle spielen sie heute im Leben junger Menschen?
  • Die Medienwissenschaftlerin Ulla Autenrieth gibt darüber auf Seite 70 Auskunft.
  • Wie schafft es heute ein Theater, auf seiner Bühne auch die reale gesellschaftliche Vielfalt im ‹postmigrantischen Zeitalter› abzubilden?
  • Die Diversitätsexpertin Inés Mateos formuliert dazu auf Seite 149 konkrete An- sprüche und Möglichkeiten.
  • Und was hat dieses ganz persönliche Sich-Ausprobieren und Sich-Zeigen von jungen Menschen auf einer Theaterbühne mit dem zu tun, was wir Gesellschaft nennen?
  • Der Soziologe Dirk Baecker entwirft dazu auf Seite 182 eine Skizze.

 

Zudem bietet dieses Buch neben einem reichhaltigen Bildteil aus vier Jahrzehnten junges theater basel neun Interviews mit externen Fachpersonen und heutigen sowie ehemaligen Beteiligten an jtb-Produktionen. Vor den einzelnen Bildstrecken sind jeweils kurze Statements von Mitwirkenden aus dem jeweiligen Jahrzehnt eingestreut.

 

Die Magie des Anfangs

 

Der Startschuss mit den beiden ersten Produktionen DO FLIPPSCH USS und KASCH MI GÄRN HA! im April und Dezember 1977 ist bis heute legendär. Die Dialekt-Adaptionen der Stückvorlagen der Berliner Theater GRIPS und Rote Grütze setzen mit der Thematisierung von Schulabgang und Lehrstellensuche einerseits und dem irrwitzigen Spiel um Liebe, Lust und Sexualität andererseits gleich einen kräftigen Grundakzent: Um die ganz realen Freuden und Leiden des Jungseins soll es in diesem Theater gehen. Persönlich und politisch. Befreiend und solidarisch. Heftig und beglückend.

 

Es ist eine Geburt aus dem Schoss des etablierten Basler Theaters heraus – und gleichzeitig die Initiation zu den Theater- und Kulturkarrieren von Ueli Jäggi, Dani Levy, Meret Barz, Hansjörg Betschart, Dalit Bloch, Corinne Eckenstein, Anina Jendreyko, Denise Geiser, Sigmund Zebrowski und zahlreichen anderen in den folgenden Jahrzehnten. Wer KASCH MI GÄRN HA! damals auf der Kleinen Bühne des Stadttheaters miterlebt hat, wird sich nicht zuletzt an den rasenden Ueli Jäggi als rollschuhfahrenden Orgas- mus ‹Orgi› erinnern (siehe Bild auf Seite 164).

 

Aber schon bald zeigt der junge Sprössling, der sich in ebenso rasendem Tempo vom grossen Haus emanzipieren wollte, ein dringendes Bedürfnis nach mehr Eigenständigkeit. Hansjörg Betschart, der erste Leiter des schliesslich selbstständig gewordenen Basler Jugendtheaters, erinnert sich bestens an diese Zeiten: «Der Regisseur Erich Holliger als Leiter der Kleinen Bühne im Stadttheater, der Schauspieler und Regisseur Helmut Berger sowie die Dramaturgin Ingrid Hammer hatten den Jugendlichen die Stadttheatertüren geöffnet. Zwei Jahre lang luden sie – während sich draussen auf der Strasse die Jugendunruhen anbahnten – allerlei junges Volk auf die Bühne ein, für die ersten Jugendstücke. Wir hatten Lust zu leben – nicht das Leben der Erwachsenen um uns herum. Nein, es sollte ein Leben in der Traumwelt sein, die unsere Realität war. Wir trafen uns auf der Mauer am Barfi, im Café Komödie in der Steinen, jede wollte jeden kennenlernen, alle wollten mitreden, ein paar politisierten. Aus all den Joints und Joint-Ventures, Häppchen und Happenings entstand vieles, unter anderem auch der Kern des neuen Jugendtheaters. Wir halfen mit, die besetzte Kaserne umzubauen. Und hier, an einem der Schnittpunkte, entwickelte sich die neue Bühne: Mit HESCH ÖPPIS? eröffneten wir 1980 die Kulturwerkstatt Kaserne. Es wurde nicht einfach nur das Gegenteil von Stadttheater: Es war ein Lebensentwurf. In der Villa im Wettstein wurde Zusammenleben geübt. In der Kaserne Zusammenarbeit. In der Stadt Zusammenkunft. Wir träumten von einer anderen Zukunft. Keiner von uns ahnte, dass die Zukunft eines jungen Theaters einmal so aussehen könnte – wir waren einfach nur bereit, nicht nur während der Nächte zu träumen. Sowas brauchen Jugendliche für jede Zukunft.»

Es ist der Beginn bewegter Wanderjahre zwischen der Kaserne, der Kleinen Bühne im Stadttheater, wo die Stücke weiterhin auch gezeigt werden, und der kleinen Villa Wettstein. Das Kind hat zwar seine Feuertaufe bestanden, aber es besitzt noch keinen eigenen Spielort und muss sich seine Bühne von Mal zu Mal neu erobern.

Wie grundlegend wichtig ein eigener fester Spielort für junges Theater ist und vieles mehr, erläutert Heidi Fischer, die ehemalige Leiterin des jtb, im Interview auf Seite 66.

 

Höhenflüge und Abstürze

 

Wie man aus der Not eine Tugend macht, beweist Hansjörg Betschart in der Folge gleich selber: Er mietet für den Som- mer 1985 ein grosses Zelt und zaubert einen hinreissenden SOMMERNACHTSTRAUM auf die Kasernenwiese. Es wird einer der ganz besonderen Höhepunkte in der Geschichte des jtb. Nach diesem listig versponnenen, poetisch-musikali- schen Gesamtkunstwerk strömen die Schulklassen ver- zückt aus dem Zauberzelt und bestürmen ihre Lehrerinnen: «Wir wollen auch Theater spielen!» Kann einem jungen Theater Schöneres passieren?

 

Im Jahr darauf kommt es mit STURZFLUG, der dreizehnten Produktion des Basler Jugendtheaters, zum buchstäblichen Absturz, an dem der Betrieb fast zu zerbrechen droht. Sigmund Zebrowksi und Daniel Buser werfen das Steuer herum und starten mit DER SCHATTEN von Jewgeni Schwarz, Becketts WARTEN AUF GODOT, Genets DIE ZOFEN und Ramuz’ GESCHICHTE VOM SOLDATEN eine nicht unbedingt jugendna- he, etwas schwerblütige literarische Phase. p Dalit Bloch und Daniel Buser erinnern sich im Gespräch auf Seite 153 unter anderem auch daran, wie sie diese Zeit erlebt haben; ihre inzwischen erwachsenen Kinder Laurin und Tabea Bu- ser, die beide auch am jtb gespielt haben, ermöglichen den generationenübergreifenden Blick auf dieses Theater. Ein strategisch geplanter Publikumsrenner und Kassenfüller wird im Jahr 1990 die gemeinsame Neuinszenierung von KASCH MI GÄRN HA! durch Daniel Buser und Dalit Bloch. p Uwe Heinrich, seit dem Jahr 2000 der Leiter des jungen thea- ters basel, begründet im Gespräch ab Seite 186 unter ande- rem auch, warum er dieses Aufklärungsstück heute sicher nicht mehr spielen möchte.

Zum wichtigsten Autor und Regisseur im jungen theater basel wird in den Neunzigerjahren Paul Steinmann mit fünf speziell fürs jtb geschriebenen Stücken, die es verstehen, Leichtfüssigkeit mit Tiefgang zu verbinden. Steinmann ist heute der meistgespielte lebende Theaterautor der Schweiz – und kaum ein Mensch weiss das. Seine MEMPHIS-BROTHERS, 1996 am jtb uraufgeführt, werden überall nachgespielt und haben sich zum absoluten Spitzenreiter seines Verlags entwickelt.

 

Konsolidierung und Entdeckungen in der Intendanz von Heidi Fischer

 

Heidi Fischer gelingt es in ihrer zehnjährigen Intendanz von 1990 bis 2000, dem Haus feste Strukturen, ab 1993 einen neuen und zugkräftigen Namen – junges theater basel –, ab 1995 einen eigenen Spielort im Baggenstos auf dem Kasernenareal und nicht zuletzt gesicherte Subventionen zu verschaffen. Eine Leistung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Hinzu kommt aber etwas, was im Theater mindestens ebenso wichtig ist: ihre Fähig- keiten als leidenschaftliche Menschenverknüpferin. Heidi Fischer hat den Blick, wer für die Sache und füreinander gut ist. Sie hat Talente wie Sebastian Nübling, Rafael Sanchez, Daniel Wahl, Tiziana Sarro, Corinne Eckenstein, Marie Leuenberger, Sarah Bühlmann und einige weitere entdeckt und gepflegt – und alle haben sie ihren Weg gemacht. Sie hat den jungen Spielvögeln ein Nest gebaut, in dem sie sich entwickeln können – aber sie hatte auch das Gespür für den richtigen Zeitpunkt, sie zum Weiterfliegen zu animieren und aus dem Nest zu schubsen. Die Kunst des Verbindens und Loslassens.

In die Zeit von Heidi Fischers Leitung fallen auch etliche feinnervige literarische Inszenierungen, wie Rafik Schamis ERZÄHLER DER NACHT (1992), wo die Märchenwelten von ‹1001 Nacht› sich vermischen mit dem Alltag von heute, oder Georg Büchners entzückendes Liebeswirrwarr in LEONCE UND LENA (1993), hier absolut überzeugend ver- schlankt auf zwei Figuren und einen Kontrabass, beide Stücke gespielt im intimen Salon der Villa Wettstein. Oder ebenso der wild-zarte Poesie-Schub in DIE NÄCHTE DER SCHWESTERN BRONTË (1997), der ersten Arbeit von Sebastian Nübling am jtb. Gleichzeitig nimmt Heidi Fischer mit Regula Schöni und Martin Zentner den Aufbau des Theater Kurssystems an die Hand, aus dem das jtb regelmässig seine jugendlichen Spieler für die Produktionen gewinnt.

 

Junges Theater als Seismograf

 

Wenn aufs Ganze gesehen die Zeit unter der Leitung von Heidi Fischer wohl die poetischste Phase des jtb bildet, scheut sie gleichzeitig keineswegs die Problemstücke. DIE BANDE (1998), eine Story um jugendliche Erpresser, kommt hier in der Regie von Corinne Eckenstein sogar als Schwei- zer Erstaufführung heraus. In DISCO PIGS (1998) werden wir Zeugen einer verstörenden Symbiose zweier Jugendlicher, die nichts auf der Welt haben ausser sich selbst. Wenn man von allen 75 Produktionen des jtb in vierzig Jahren nur drei nennen dürfte, müsste DIE SCHAUKEL (2000) von Edna Mazya unbedingt dabei sein. Das Stück über eine Vergewalti- gung unter Jugendlichen auf einem Spielplatz lässt niemanden kalt. Man muss erlebt haben, wie die flotten Sprüche von den Zuschauerbänken mit der Zeit einer erschreckten Betroffenheit Platz machen. Das war Jahre, bevor die Gruppenvergewaltigung von Zürich Seebach und andere Grenzüberschreitungen unter Jugendlichen die Schweizer Öffentlichkeit schockierten. DIE SCHAUKEL, wie DISCO PIGS in der Regie von Sebastian Nübling, bildet auch den internationalen Durchbruch des jtb. Am ‹Impulse›-Festival, dem Besten-Treffen der freien Szene, erringt die Inszenierung den ersten Preis – als erstes Jugendtheater überhaupt. Diese Auszeichnung gilt als Oscar der freien Szene im gesamten deutschsprachigen Raum. Die SCHAUKEL markiert gleichzeitig den Übergang der Leitung von Heidi Fischer zu Uwe Heinrich. Beide sind sie in die Entstehung dieser wichtigen Produktion integriert.

In den folgenden Jahren wird das jtb vermehrt eingeladen zu internationalen Festivals und zu Koproduktionen mit grossen Häusern. Diese Einladungen sind ohne Zweifel dem breiten Renommee zu verdanken, das sich Sebastian Nübling, dessen Karriere am jtb ihren Anfang nahm, in kurzer Zeit auf vielen grossen Bühnen erarbeitet hat. Alle Ko-produktionen bauen auf ihn als Regisseur. Trotz seines europaweiten Erfolgs als Theatermacher kehrt er jedes Jahr für eine Produktion ans jtb zurück. p Im Gespräch ab Seite 31 erläutert er unter anderem, was ihn immer wieder hierher zurückzieht, und gibt Einblicke in die Arbeitsweise, mit der er hier seine Inszenierungen entwickelt.

In den Bereich von Seismografie und Sensibilisierung gehört auch die Auseinandersetzung des jtb mit dem Thema Jugendgewalt. Die Stücke REIHER (2003), PUNK ROCK (2010) und MORNING (2013) des britischen Dramatikers Simon Stephens, die das jtb (teilweise in Kooperation) alle zur deutschsprachigen Erstaufführung brachte, fokussieren diese schmerzliche Thematik so schonungslos wie viel- schichtig. Das jtb öffnet mit seinen Inszenierungen generell den wichtigen Weg in einen differenzierten Diskurs, wie er vor allem in den zahlreichen Vor- und Nachbereitungen der Stücke mit Schulklassen geführt wird, die das Theater regelmässig anbietet. Diese Einstimmungen und Nachbesprechungen zu den Produktionen sind ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil des Gesamtpakets junges theater basel.

 

Die Koproduktionen mit grossen Häusern – wo liegt der Mehrwert?

 

Die etablierten Theater entdecken die jugendliche Frische und inhaltliche Dringlichkeit des jtb und seiner Inszenierungen. Als erste grössere Koproduktion entsteht REIHER (2003) in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Stuttgart. FUCKING ÅMÅL (2005) wird mit dem Theater Basel für die Bühne des Schauspielhauses erarbeitet, ebenso NEXT LEVEL PARZIVAL (2007, koproduziert mit der Ruhr-Triennale), DEAR WENDY (2009) und DIE KLASSE (2013). Dazwischen sichert sich das Zürcher Schauspielhaus das wirblige Tanztheater SAND (2011) in der Co-Regie von Sebastian Nübling und Ives Thuwis. NOISE (2015) wird mit den Wiener Festwochen ko-produziert, ZUCKEN (2017) mit dem Berliner Gorki-Theater. Und mit dem Musik- und Tanztheater MELANCHOLIA (2016, ebenfalls gemeinsam mit Ives Thuwis) erobert sich das jtb die Grosse Bühne des Theaters Basel samt Gastspiel am Holland-Festival in Amsterdam. Die Kadenz dieser Koproduktionen ist mehr als eindrücklich. Mindestens alle zwei Jahre stemmt dieses kleine Haus eine Riesenproduktion in ganz anderen Dimensionen. Bekommt es ihm gut?

Uwe Heinrich scheint der Wechsel von klein zu gross zu reizen. Auf den grossen Bühnen ergeben sich wesentlich grosszügigere Möglichkeiten gestalterischer, technischer und kooperativer Art als mit den einfachen Einrichtungen in den engen ehemaligen Stallungen der Kaserne, wo seit- lich noch die steinernen Futtertröge zu sehen sind. Aber wenn man nach einer solchen Gross-Erfahrung mit ihm spricht, spürt man jedes Mal, dass er mit jeder Faser seines Theaterherzens froh ist, mit seinem jtb nicht dauernd auf einem solchen Riesendampfer unterwegs zu sein. Die Entscheidungswege, die exklusive Bedeutung der Sache ‹junges Theater› im Gesamtbetrieb, das Zusammenwirken der Einzelteile und vieles mehr laufen im kleinen Haus jtb doch unvergleichlich reibungsloser, übersichtlicher und letztlich befriedigender. Nichts geht über die grundsätzliche Eigenständigkeit. Aber zweifellos tragen diese Koproduktionen zum grenzüberschreitenden Ruf bei. Das junge theater basel ist im gesamten deutschsprachigen Raum zu einer Marke geworden, die jeder einschlägig Interessierte kennt, ein wichtiger Kulturbotschafter der ganzen Region im In- und Ausland.

 

Wie jugendgerecht wird da gearbeitet?

 

Und dennoch gibt es Stimmen, die befürchten, dass durch diese Internationalisierung und Vermischung mit dem professionellen Theaterschaffen der Bezug zum Kerngeschäft jungen Theaters, zum jugendlichen Alltag hier und heute, etwas in den Hintergrund treten könnte. In MELANCHOLIA zum Beispiel sahen etliche Besucherinnen, darunter auch Fachpersonen, nicht mehr ganz das, was sie am jtb so sehr schätzen, die Unmittelbarkeit, die Frechheit und Eigenwilligkeit, die Authentizität des Ausdrucks. Die von sechzehn Profis gespielte und gesungene Barockmusik und eine stark strukturierte und formalisierte Tanztheaterchoreo- grafie von neunzehn quicklebendigen Jugendlichen über- nahmen hier den Part des Wortes. Für manche war gerade dies die erfrischende Entdeckung des Abends: Es geht auch im Jugendtheater, wenn es so gut gemacht wird, ganz ohne gesprochene Sprache.

Ein Einblick in den Probenprozess von MELANCHOLIA zeigte: Alle Bewegungsmuster dieser Tanztheaterchoreografie entstehen während der Proben aus den Angeboten der Ju- gendlichen. Der Tänzer und Choreograf Ives Thuwis stellt ihnen über fünfzig Aufgaben, zum Beispiel: «Ein Versuch, das Nichts zu gestalten / Die Aufmerksamkeit auf sich len- ken / 50 Wege, Langeweile zu vermeiden / Zeige deine Weiblichkeit/Männlichkeit / Immer wieder am Gleichen schei- tern / Alles, was du schon immer mal auf der Bühne machen wolltest / Warum der Mensch sterben soll / Leben, als gäbe es kein Ende / Die Schönheit des Leidens / Sich selber trösten.» Alle müssen zu allem etwas anbieten. Thuwis und Nübling wählen aus, was ihnen sprechend scheint, strukturieren es und verteilen es neu auf die Gruppe. Das erinnert in der Methodik und Ergebnisfindung an die Arbeitsweise von Pina Bausch. «Manchmal», sagt Uwe Heinrich, «weiss jemand gar nicht mehr, dass das seine Bewegung ist, die jetzt alle machen.»

Das ist in meinen Augen eine sinnvolle Erweiterung des Ausdrucksrepertoires von jungem Theater, die zudem auch hier ganz aus den Möglichkeiten der Jugendlichen schöpft.

 

Tanz und Musik öffnen gleichzeitig für das Publikum neue Bereiche des Empfindens und Rätselns, des assoziativ bildhaften Zugangs zu einem Thema. Problematischer wirkte hingegen die jüngste Produktion ZUCKEN, die mit dem Berliner Gorki-Theater koproduziert wurde. Da geht es im Spiel der sieben Jugendlichen aus Basel und Berlin zwar durchaus vielschichtig um das grosse Thema Identität, aber die Realitätssplitter dieser Radikalisierungsszenarien von jungen Menschen zwischen Jihad und Ukrainekonflikt haben nicht wirklich viel mit der hiesigen Situation von Jugendlichen zu tun.

 

Innovation junges Tanztheater – ein Glückserlebnis

 

Im Überblick von vierzig Jahren junges theater basel er- scheint diese Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten in Richtung Tanztheater als eine der wichtigsten und schönsten Innovationen in seiner langen Erfolgsgeschichte. Mein persönliches Glückserlebnis in diese Richtung lässt sich genau datieren: auf den 22. November 2008. Zwei Tage später erhält Uwe Heinrich als jtb-Leiter den Kulturpreis der Stadt Basel; ich erlaube mir deshalb, aus meiner Laudatio zu diesem Anlass im Basler Rathaus zu zitieren: «Ich stehe heute, und ich gebe das gerne zu, noch ganz unter dem Eindruck eines solchen Höhenflugs, der jüngsten Produktion nämlich des jungen theaters basel, die vor zwei Tagen Premiere hatte: STRANGE DAYS, INDEED, ein Tanztheater, wie ich es seit Pina Bausch und Alain Platel, meinen persönlichen Heroen dieser Sparte, nicht mehr gesehen habe. Ich werde Ihnen nichts über diese Produktion erzählen, man muss sie sich einfach selber anschauen. Vielleicht nur so viel: Da wirbeln sechs junge Leute über die Bühne, dass einem dauernd heiss und kalt wird. Das sind wunderbar rohe, ungeschliffene Diamanten – und seit diesem Samstag bin ich der tiefen Überzeugung, dass die schöner, verblüffender, berührender funkeln als geschliffene. Theater auf Augenhöhe mit seinem Publikum. Mit Themen, die jungen Menschen auf den Nägeln brennen. Und deshalb kommt das mit dieser hinreissenden Authentizität über die Rampe, die Theaterprofis regelmässig umhaut. Unge- künstelt, aber mit einem Kunstanspruch, der jede enge Verwertungspädagogik weit hinter sich lässt. Und deshalb ist das junge theater basel auch für erwachsene Zuschauer immer wieder eine Quelle der inhaltlichen und ästhetischen Inspiration.»

Das jtb eröffnet damit eine neue Sparte, die ihm und seinem Publikum sehr gut tut. Es hat mit Ives Thuwis aus der lebendigen flämischen Tanz- und Theaterszene auch einen idealen Impulsgeber gefunden. Seine bisherigen Tanztheaterproduktionen am jtb nach STRANGE DAYS, INDEED (2008), KEI ABER! (2011), SAND (2011), MÄNNER (2014) und MELANCHOLIA (2016) – gehören zu den besonderen Glanzpunkten, die aus der ureigenen, tänzerisch ungeschulten Bewegungssprache der Jugendlichen schöpfen. Das ist ein Grundprinzip des jtb, ob Tanz- oder Sprechstück. Und hier liegt wohl eines der Wirkungsgeheimnisse dieses jungen Theaters begründet, das diese ungeschliffenen Diamanten unter der sensiblen Führung von erfahrenen Theaterprofis so durchlässig, transparent und gleichzeitig so authentisch erscheinen lässt.

 

Was heisst hier ‹authentisch›?

 

Authentizität ist ein weites Feld. Wie ist sie in der darstellenden Kunst überhaupt herstellbar? Ist das nicht schon ein Widerspruch in sich: Authentizität herstellen? p Der ehemalige jtb-Spieler und heutige Filmregisseur Michael Koch hat in unserem Gespräch auf Seite 74 die folgende Antwort bereit: «Im jtb sehe ich es so: Gerade weil die ju- gendliche Persönlichkeit noch nicht so geformt ist, dass sie weiss, wie man es machen muss, sickert ein Grad an Authentizität durch, der einzigartig ist. Ich sehe einen jungen Menschen zu, im Kampf mit sich selber. Die professionelle Regie findet dann die passende Form, die es für die Vermittlung braucht.»

Sebastian Nübling und Uwe Heinrich schmunzeln jeweils ein wenig, wenn man die Arbeiten des jtb als besonders authentisch bezeichnet. Gerne weisen sie in Gesprächen darauf hin, dass das, was auf dieser Bühne so authentisch wirkt, nichts mit einer urwüchsigen oder naiven Natürlichkeit, Unverfälschtheit oder gar Formlosigkeit zu tun hat, sondern im Probenprozess hart erarbeitet wird. Die authentische Wirkung entsteht wohl mehr daraus, dass man hier auf allen Ebenen mit dem wirklich eigenen Material arbeitet, das die Jugendlichen in die Produktionen einbringen, dabei ein offenes Ohr und Auge dafür hat, was auch neben den direkten Proben als Sprach-, Slang- und Körper- ausdruck der jungen Spielerinnen und Spieler in die gemeinsam verbrachte Zeit einfliesst – und es nach Möglich- keit in die Produktion einbaut. Wohl nicht zuletzt deshalb verbringt das Regieteam jeweils viel Zeit auch neben den Proben mit den Jugendlichen, beim gemeinschaftlichen Mittagessen, bei kollektiven Kino-, Konzert- oder Ausstellungsbesuchen, bei Partys natürlich. Theater wird da buchstäblich als Lebens- und Spielraum gelebt. «Wir investieren hier Lebenszeit», betont Sebastian Nübling, «und das soll man auf der Bühne auch sehen.»

Theatermenschen sind geborene Voyeure. «Ich werde gut bezahlt dafür, dass ich zuschaue», meint Uwe Heinrich einmal im Gespräch und wirkt dabei fast etwas beschämt. «Im Theater schaut man genauer zu, als man das als zivilisierter Mensch eigentlich dürfte. Die fragile Kunst dabei ist es, die Spielenden dahin zu bringen, dass sie sich öffnen, ohne sich zu verlieren.» Kann man es präziser, sensibler sagen? Genau das ist die Kunst des jungen theaters basel und seiner professionellen erwachsenen Leitungscrew.

 

Das Grundkonzept des Hauses

 

Das junge theater basel steht auf zwei Säulen:

  • Die Theaterkurse für alle interessierten jungen Menschen zwischen 14 und 24 Jahren werden pro Saison von sechzig bis achtzig Jugendlichen in bis zu vier Kursen besucht, die von verschiedenen Theaterpädagoginnen und -pädagogen geleitet werden. In den Kurspräsentationen kurz vor Spielzeitende zeigen sie je drei Mal vor Publikum, was sie über das Jahr hinweg in ihrer Freizeit erarbeitet haben. Dazu werden die Medien nicht eingeladen.
  • Jährlich bringt das jtb mindestens zwei professionelle Eigenproduktionen heraus. Diese Inszenierungen werden innerhalb der üblichen Probenzeit für eine profes- sionelle Produktion von acht Wochen und mit einem Arbeitsumfang von täglich acht Stunden erarbeitet. Für einige Spielerinnen und Spieler bedeutet das, dass sie von der Schule freigestellt werden müssen, andere sind im sogenannten Zwischenjahr, bevor sie ihre Ausbildung beginnen.

Eng miteinander verknüpft sind diese beiden Säulen dadurch, dass das jugendliche Personal für die professionellen Produktionen aus den Theaterkursen geschöpft wird. Es gibt also kein Casting, sondern man vertraut auf die Eigengewächse, die man gut kennt. Diese Inszenierungen werden jeweils im eigenen Haus fünfundzwanzig bis dreißig Mal gespielt, bevor sie zu Gastspielen in der ganzen Schweiz und zu Festivals im gesamten deutschsprachigen Raum eingeladen werden. (Einzelne Produktionen wie etwa DIE MEMPHIS BROTHERS, DIE SCHAUKEL, TSCHICK, MÄNNER oder

FLEX blieben über mehrere Jahre im Repertoire und wurden bis zu hundertfünfzig Mal gespielt.)

Gegenstand der Arbeiten ist immer ein zeitgenössisches Thema, das auf sehr direkte, publikumsnahe und oft bewegungsintensiv-dynamische Art umgesetzt wird. Jugendliche Figuren werden von Jugendlichen gespielt, für erwachsene Figuren engagiert das jtb professionelle Kräfte. Die Leitung liegt immer in den Händen von Profis. p Der persönliche Weg über die Theaterkurse in eine professionelle Inszenierung hinein kann sehr anschaulich in den Gesprächen mit Suna Gürler auf Seite 114 und Anna Jungen auf Seite 146 miterlebt werden, bei Suna Gürler auch der Weg zur späteren Kursleiterin und regelmässigen Regisseurin am jtb. Die heutige Radiojournalistin Anna Jungen betont die gute Art des «Entschämens», die sie hier erlebt hat, und unterstreicht: «Eine ganz wichtige und neue Erfahrung war für mich, dass immer alle etwas Interessantes beitragen können, wenn man sie auf gute Weise dazu ermutigt und ernstnimmt.» Und Suna Gürler meint zu ihrer Erfahrung als Kursleiterin: «Etwas vom Schönsten ist zu erleben, wie die Kursteilnehmenden mit der Zeit aus dem Schulmodus herauskommen, auch aus der Erwartungshaltung, hier einfach bespasst zu werden.»

 

Die Vielfalt der Themen, Formen und Sprachen

 

Ein neuer, höchst animierter und gleichzeitig thematisch sehr ernsthafter Produktionstyp hat sich in den letzten zehn Jahren am jtb herausgebildet: das KLASSENZIMMER- STÜCK. Das sind wahre Überfallkommandos auf nicht ein- geweihte Schulklassen direkt in ihrem Unterrichtsraum. Mitten in die Stunde platzt der Kleintrupp herein und breitet ein möglichst realistisches Konfliktszenario aus. Der Themenhintergrund bei den beiden ersten Klassenzimmerstücken war genderorientiert. Mit DER 12. MANN IST EINE FRAU (2006) stossen drei junge Frauen vor ins ‹letzte Reservat der Männlichkeit›, die Fan-Kultur des Fussballs. In UNTENRUM (2011) wird der Umgang mit weiblicher Sexualität so unverfroren wie humorvoll auf die Schulbänke geknallt. Grundlage der Stückentwicklung bildet in beiden Fällen eine Vielzahl von selbstgeführten Interviews. Es empfiehlt sich, in die Trailershow auf der jtb-Website zu klicken, um einen kurzen Eindruck von dieser hautnahen Theaterform zu gewinnen. Im Herbst 2017 kommt das neue Klassenzimmerstück DON’T FEED THE TROLL über Cybermobbing heraus und stellt die Frage: Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie immer segelt das jtb damit hart am Wind des Zeitgeschehens.

Auf der Webseite des jtb zu diesen Stücken ist jeweils vermerkt: «Playing on demand: Lehrpersonen, die sich einen solchen ‹Überfall› wünschen, können einen Termin für eine Aufführung in ihrem Klassenzimmer verabreden. Diese Absprachen sollten vertraulich stattfinden, da ein Überraschungsmoment für die Schülerinnen und Schüler am Anfang wünschenswert ist.» Es gibt nur eine Empfehlung: Zu greifen!

Ein weiteres neues Format, das sich in den letzten Jahren am jtb sehr erfolgreich entwickelt hat, ist die OFFENE BÜHNE ZEIG! Egal ob Reimen, Weinen, Jonglieren oder Musizieren, ZEIG! bietet an jedem ersten Samstag im Monat die Möglichkeit, sein Talent vor Publikum zu präsentieren. Maximal zehn Minuten pro Auftritt und mit Barbetrieb. Das Angebot entwickelte sich derart zum Renner, dass der Zutritt aus feuerpolizeilichen Gründen auf hundert Personen beschränkt werden musste. Man kann es nicht genug betonen: Junges Theater braucht ein eigenes Haus, damit sich solch vielfältige Bindungen und Ausstrahlungen ent- wickeln können.

Generell sehr variabel sind die ästhetischen Theatersprachen, die das jtb in seiner vierzigjährigen Geschichte bisher entwickelt hat. Erzähltheater steht neben Tanztheater, Stilles neben Lautem, Drastisches neben Poetischem. Vielleicht hat sich in den letzten Jahren eine etwas starke Dominanz des Nübling-typischen, bewegungsgetriebenen Sportiv-Stils auf höchstem Energielevel herausgebildet. Das hat manchmal auch den etwas überdeutlichen Charakter einer Überwältigungsdramaturgie – und kompensiert meist durchaus wirkungsvoll handwerkliche oder sprachliche Defizite, die Jugendliche ohne Schauspielausbildung zwangsläufig mit auf die Bühne bringen.

Es ist nachvollziehbar, dass man die Kräfte von Sebastian Nübling und Suna Gürler (die auf ihrem künstlerischen Weg ebenfalls stark vom Regie-Duo Nübling/Thuwis geprägt ist) für das Haus nutzen will. Dennoch kann es klug sein, darauf zu achten, dass sich nicht eine Tendenz zur theaterästhetischen Monokultur entwickelt. Vielleicht wäre es auch eine Unterschätzung des jugendlichen Publikums zu meinen, dass es nur mit Tempo, Atemlosigkeit und stupender Körperlichkeit zu überwältigen – besser: zu bezaubern sei.

Thematisch kann man dem jtb für die Zukunft nur wünschen, so verschiedenartig am Ball zu bleiben wie bisher. Identitätsfragen, Genderaspekte, der Umgang mit Sehnsüchten und Ängsten, mit Macht und Ohnmacht, das Suchen eigener Positionen im privaten und gesellschaftlichen Leben sind Themen, die im jungen theater basel regelmässig und mit grosser Ernsthaftigkeit und Spielfreude aufgenommen werden.

 

Integrationsfaktor Kultur

 

Zur Vielfalt der Sprachen und Formen gehört nicht zuletzt das Publikum des jtb selbst. In Basel, der Kultur- und Pharma-Stadt im Dreiländereck, leben Menschen aus über hun- dertsechzig Nationen. Der Ausländeranteil beträgt 35,7 Prozent, in einigen Kleinbasler Quartieren auch über fünfzig Prozent. Auf den belebten Zuschauerrängen des jtb wird Basel schnell zu Babel – sinnstiftend vereint im sinnlichen Theatererlebnis. Was dieses Haus mit seinem enorm partizipativen Gesamtkonzept seit Jahr und Tag für die Integration junger Menschen mit unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Hintergründen sowie für ihre Teilhabe an Kultur und Gesellschaft leistet, ist beeindruckend. Wäre das junge theater basel deshalb nicht längstens ein würdiger Kandidat für den Basler Integrationspreis?

Hier kommen Jugendliche oft zum ersten Mal in ihrem Leben in Kontakt mit Theaterkunst, werden auf bildhafter und diskursiver Ebene eingeladen, teilzunehmen an Ausei- nandersetzungen mit individuell und gesellschaftlich wichtigen Themen. Lustvollere Integrationsarbeit ist kaum denkbar.

 

Verschiedenheit bringt Glück

 

Lässt man die Leitungspersonen in der vierzigjährigen Erfolgsgeschichte des jungen theaters basel kurz Revue passieren, stechen drei gerade aufgrund ihrer Unterschied- lichkeit heraus. Hansjörg Betschart (1978–1985) ist Zauberer und Zampano, der sowohl Stücke schreibt oder bearbeitet als auch Regie führt und selber mitspielt, ein charmanter Menschen- und Spielverführer mit Witz und Chuzpe. Heidi Fischer (1990–2000) erscheint auf den ersten Blick wie sein pures Gegenteil: Eine äusserlich zurückhaltendere Person als sie ist kaum vorstellbar. Und genau diese ruhige und beharrliche Nestbauerin war es, die dem jtb feste Strukturen und eine sichere Bleibe verschafft hat. Seit siebzehn Jahren leitet nun Uwe Heinrich das jtb. Er hat das theaterpädagogische Angebot des Hauses markant ausgebaut und leitet regelmässig zwei der Theaterkurse selber. Durch die Wichtigkeit, die er diesen Kursen einräumt, ist nicht nur die jtb-Familie stark gewachsen, das Haus hat ei- nen wesentlich breiteren Unterbau gewonnen und funktioniert auch neben den Vorstellungen als eigener, vitaler Treffpunkt, ein Klubhaus für Junge.

Aufs Konto Heinrich geht auch die Erweiterung in Richtung Tanztheater, ebenso die umfangreiche Vermittlungsarbeit in den Schulklassen. Gleichzeitig ist er Produktionsdrama- turg aller Inszenierungen und damit die wichtigste Schaltstelle zwischen Kunst und Publikum. Uwe Heinrich ist ein Ermöglicher für alles und jedes. Es gibt nichts, das ihn nicht interessiert, wenn es für junges Theater wichtig sein könnte. Er streunt durch diese Welt wie ein Schwamm mit integriertem Selektionsfilter, ist permanent auf Materialsuche, inhaliert Literatur, Filme, Ausstellungen, Sachbücher, Musik, wissenschaftliche Abhandlungen und vieles mehr wie andere Menschen lebensnotwendige Nährstoffe. Da geht einer so leidenschaftlich wie kritisch völlig in seiner Arbeit auf – die er gar nicht als Arbeit empfindet (siehe Interview auf Seite 186). Das Besondere dabei: Uwe Heinrich lebt diese Verbindung von erwachsener und jugendlicher Perspektive und Lebenswelten ganz persönlich, und dies ohne jede Anbiederung. Er wirkt dabei als Anreger in viele Richtungen. Die Kraft und Dringlichkeit, die das junge theater basel nun seit vielen Jahren ausstrahlt, ist seit dem Jahr 2000 untrennbar mit seiner reflektierten Leidenschaftlichkeit verknüpft.

 

Gibt es ein Erfolgsrezept?

 

Warum ist das junge theater basel seinen Weg durch die ersten vierzig Jahre so erfolgreich gegangen? Will man es in aller Kürze sagen, dann sind wohl die folgenden Aspekte nicht ganz unwesentlich:

  • das Vertrauen in ihre je spezifischen Fähigkeiten, das die an diesem Haus Beteiligten sich gegenseitig entgegenbringen: die Jugendlichen den regieführenden Profis, das Regieteam den Jugendlichen – und nicht zuletzt alle zusammen dem jugendlichen und erwachsenen Publikum;
  • die glückliche Balance, die ein klarer Kunstanspruch und eine nicht belehrende pädagogische Haltung mit- einander eingehen;
  • die kluge Mischung aus Kontinuität und Wandel, gewachsener Tradition und Innovation, die das Haus so frisch und dynamisch hält;
  • die Kleinheit und Übersichtlichkeit des Hauses, die kurze Entscheidungswege und eine niedrige Reibungs-Quote bewirken. Was hier mit 2,7 bezahlten Personen- stellen bei Einheitslohn in allen Funktionen übers Jahr hinweg geleistet wird, ist eindrücklich;
  • die Eigenständigkeit des Theaters als eigentlicher Kern seiner Identität. Als vierte, fünfte oder sechste Sparte innerhalb eines grossen Hauses könnte es nie diese genuine Kraft entfalten;
  • und zuerst und zuletzt: das Herzblut, das alle Beteiligten an dieses Theater mit all seinen Aktivitäten und an sein Publikum verschenken.

 

Selbstredend könnte sich das alles nicht entwickeln, wenn es nicht von einer kulturell interessierten und politisch repräsentierten Öffentlichkeit getragen und gepflegt würde, nicht zuletzt auch finanziell. Um es kurz und entschieden zu sagen: Wenn es das junge theater basel nicht schon seit vierzig Jahren gäbe, müsste man es subito erfinden – und ihm frohen Mutes weiterhin ein so spritziges und kraftvolles Leben wünschen!

 

 

Das junge theater basel in ein paar Zahlen und Fakten (Saison 2016/17)

 

Subvention durch den

Kanton Basel-Landschaft                         CHF 350 000

Mietkostenübernahme durch

den Kanton Basel-Stadt                            CHF 85 000

Eigeneinnahmen                                       CHF 150 000

Gesamtumsatz                                         CHF 585 000

Zahl der Vorstellungen                              90* (64 im Haus, 26 auf Gastspielen)

Zuschauerzahl                                          5000*

 

Auslastung                                               87 Prozent (bei 108 Plätzen)**

Eigenfinanzierungsgrad                             26 Prozent**

Personalstellen                                         4 Personen teilen sich in 270 Stellenprozente mit Einheitslohn in allen Funktionen (100% Leitung, 60% Sekretariat und Koordination, 60% Technik, 50% Technik)

 

Preise                                                       ‹Impulse›-Preis 2001

‹Impulse›-Preis 2005

Basler Kulturpreis 2008 für Uwe Heinrich
Schweizer Theaterpreis 2014

 

* Die Zahlen für Vorstellungen und Publikum schwanken zum Teil von Jahr zu Jahr, abhängig auch von Grösse und Erfolg der Produktionen. Der langjährige Zuschauerschnitt bewegt sich zwischen 6000 und 8000, mit Ausschlägen bis zu 13 000; die Zahl der Vorstellungen schwankt zwischen 90 und 140 pro Jahr.

** Die Zahlen für Auslastung und Eigenfinanzierungsgrad sind im Vergleich mit den Schauspielhäusern an deutschsprachigen Theatern herausragend. (Der Eigenfinanzierungsgrad bewegt sich dort in der Regel zwischen 10 und 20 Prozent, die Auslastung zwischen knapp

50 und 85 Prozent.)

 

Alfred Schlienger ist Theater- und Filmkritiker für die NZZ und weitere Medien, ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien

an der Pädagogischen Hochschule, Gymnasiallehrer, Erwachsenenbildner und Theaterkursleiter. Er hat 51 der 75 Produktionen des jungen theaters basel gesehen und bereut jede, die er verpasst hat. Er lebt in Basel.